Berlinale 2020

70. Internationale Filmfestspiele Berlin

Die erste Berlinale unter der Leitung des ehemaligen Locarno-Chefs Carlo Chatrian und von Mariette Rissenbeek stand unter keinem guten Stern. Durch die Schließung der Cinestar-Kinos wurden die Wege erheblich weiter, was noch durch die einseitige Schließung der U-Bahn am Potsdamer Platz verstärkt wurde. So schaffte man viele Filme nicht, weil die Zeit zum Kinowechsel nicht wirklich reichte. Dies wurde dann noch durch den neuen Encounters-Wettbewerb verstärkt, da dieser das Panorama zu guten Teilen aus seinem Stammkino Cinemaxx 7 verbannte. Bei Encounters bleibt ohnehin die Frage nach dem Sinn, da dasselbe filmische Konzept seit nunmehr 50 Jahren vom Forum erstklassig bedient wird. Das sah man schon an den Regisseuren, denn der neue Wettbewerb hatte außer einigen Erstlingsfilmen, die sonst wohl auch im Forum gelandet wären, die bekannten Namen des Forums (Heinz Emigholz, Josephine Decker,…) im Programm. Dies führte beim Forum zum nachrutschen einiger Filme, die eindeutig ins experimentierfreudige Expanded- Programm gehört hätten. Und es machte die positive Verschlankung durch zusätzliche Filme wieder zunichte.

Mariette Rissenbeek, Carlo Chatrian © Alexander Janetzko / Berlinale 2019

Auch sollte sich die neue Leitung überlegen, wie man bei einem Publikums-A-Festival in dieser Größenordnung mit dem Publikum und den Fans umgeht. Wenn zum Beispiel Helen Mirren das Festival lobt, weil sie hier in direkten Kontakt mit dem Publikum treten kann, und Herr Chatrian antwortet „Wir machen das nicht mehr“, ist das völlig daneben und zeigt seine Einstellung. Er hat völlig recht, dass der Film im Mittelpunkt stehen sollte, aber er kann bei einem Festival wie der Berlinale nicht so tun, als wären die jahrelang treuen Fans nicht wichtig. Das Festival lebt von ihren Fans und dem treuen Publikum, was die gute Mischung liebt, was der alte Leiter Dieter Kosslick sehr gut verstanden hat. Auch ist es für ein A-Festival nötig, bekannte Namen auf den Teppich zu stellen, da sonst internationale Presse nur sehr viel weniger berichtet. Wenn der weitgehende Verzicht auf Unterhaltsameres und große Namen bedeutet hätte, dass das Programm nur erstklassige Filme bietet, wäre dies ja noch in Ordnung. Wenn dann aber In allen Sektionen nur wenige wirklich gute Filme, reichlich Filme, die irgendwie Ok sind und viele sehr mäßige Filme laufen, geht das Konzept auch so nicht auf. Das begann schon mit dem Eröffnungsfilm MY SALINGER YEAR, der harmlos-nett, aber keineswegs eine gute Visitenkarte zum neuen Programm war. Nachfolgend nach Sektionen geordnet meine persönlichen Favoriten.

© Michael Deckbar / Berlinale 2014

WETTBEWERB

In EFFACER HISTORIQUE (DELETE HISTOY) schaffen es die beiden Filmemacher Delepine und Kervern heutige Probleme wie den Missbrauch von Social Media, allgewärtige Handys und Clouds, Verschlechterungen im Arbeitsmarkt, etc. so witzig verpackt zu beschreiben, dass man die Aussage des Films nicht nur 100 Prozent unterschreiben kann, sondern auch großartig unterhalten wird. Von den vielen witzigen Auftritten ihrer Darsteller aus früheren Filmen ganz zu schweigen. Der Film wurde mit dem Jubiläumspreis bedacht.

FIRST COW von Kelly Reichardt vereint wiedermal alles was man an ihren Filmen so liebt. Diesmal allerdings gepaart mit der skurrilen Geschichte von zwei Freunden, die das Diebstahl- Melken einer Kuh zur Gebäckherstellung benutzen, damit bei den Goldsuchern zu Geld kommen und fast ihr Leben verlieren. Leider gab es dafür keinen Preis.

RIZI (DAYS) ist das genaue Gegenteil. Wie bei Tsai Ming-Liang üblich, passiert hier nur sehr wenig. In ruhigen Bildern zeigt er den Alltag zweier Männer, die sich schließlich zu einer Massage mit Extras treffen, wieder auseinandergehen, und ihren Alltag weiter leben. Die Schlusseinstellung ist dabei sehr berührend. Der Film beweist, dass man bei guter Beobachtung auch mal auf eine größere Story verzichten kann. Leider gab es auch dafür keinen Preis.

Der Gewinner des silbernen Jury- Bären (zweiter Preis) war der Favorit der meisten Besucher und der Presse. In NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS zeigt Regisseurin Eliza Hittman die Geschichte eines ungewollt schwanger gewordenen Mädchens (Sidney Flanagan), das mit ihrer Cousine (Talia Ryder) nach New York fährt, um eine Abtreibung vorzunehmen. Der Film könnte auch als Pflichtfilm in Schulen laufen und hat mit seinen beiden Hauptdarstellerinnen zwei erstklassige Schauspielerinnen, die auch gut für den Darstellerpreis gewesen wären. Demnächst auch im Kino zu sehen.

SPECIAL

HIGH GROUND von Stephen Maxwell Johnson erzählt von der Verfolgung einer Aborigine-Familie in Australien über 12 Jahre. Nach dem Mord an vielen Familienmitgliedern durch die Polizei wird die Tat vertuscht. Der einzige Überlebende, ein kleiner Junge, wird von einem Kopfgeldjäger gerettet und lebt fortan bei Missionaren. Die Verwandten starten Rachefeldzüge und werden nun gesucht. Der Kopfgeldjäger und der nun junge Mann geraten zwischen die Fronten und müssen sich für eine Seite entscheiden. Der Film zeigt, wie übel mit den australischen Ureinwohnern umgegangen wurde.

POLICE von Anne Fontaine, einer der unterhaltsamsten Beiträge, beschäftigt sich mit drei Polizisten, die einen illegalen, aber vom Tode bedrohten Refugee zum Flughafen schaffen sollen. Von ihrem Gewissen geleitet, versuchen sie ihn zu retten. Der Film zeigt aber auch, wie auch eine vermeintliche Rettung oft nur sehr temporär bleibt. Das Darstellerensemble (Virginie Efira, Omar Sy und Gregory Gadebois ) ist dabei erstklassig. Der Film startet im Spätsommer.

Der wohl beste Dokumentarfilm der Reihe war SPEER GOES TO HOLLYWOOD. Der Film von Vanessa Lapa zeigt wie der Architekt und Nazi- Minister, verantwortlich für mindestens 12 Millionen Zwangsarbeiter, 1971 versucht eine Verfilmung seines fragwürdigen Bestsellers an Hollywood zu verkaufen. Mit Hilfe des Drehbuchautors Andrew Birkin soll so seine endgültige Reinwaschung geschafft werden. Wie dies scheitert wird mit Hilfe vieler Originalfilm- und Tonbandaufnahmen aus Gesprächen zwischen Birkin und Speer nachvollzogen. Start demnächst.

ENCOUNTERS

FUNNY FACE von Tim Sutton zeigt zwei Außenseiter, einen Mann, der meist mit Masken herumläuft und versucht einen Bodenspekulanten aufzuhalten, und die Tochter islamischer Eltern, die die Strenge des Vaters nicht mehr aushält und wegläuft. Wie die beiden zueinander finden und sich gegenseitig verändern, ist das faszinierendste an dem Film.

In MALMKROG geht Cristi Puiu diesmal andere Wege. Statt seiner im Heute spielenden Alltagsdramen mit sehr vielen Gesprächen zeigt er uns ein Fresko, das auf dem Text des russischen Philosophen Wladimir Solowjow beruht. Aber auch hier besteht der Film aus Gesprächen, aus Sicht verschiedener Personen teils in falscher Zeitabfolge gezeigt, die sich um Themen wie Tod, Herrschaft und Moral drehen. Aber seine Kritik bezieht sich nicht nur auf vergangene Zeiten, sondern auch auf das Heute, wo sich ja gar nicht so viel geändert hat.

SLUZOBNICI (SERVANTS) von Ivan Ostrochovsky zeigt wie sich im Kommunismus der achtziger Jahre der Staat die katholische Kirche untertan macht, und dort, teils wegen persönlicher Vorteile, teils um die Institution zu schützen, die Oberen auch mitspielen. Anhand zweier Seminaristen werden die Probleme mit dem Gewissen verdeutlicht. Dies in klaren Schwarz-Weiss- Bildern und in Form eines Schwarze Serie –Krimis.

PANORAMA

SCHLINGENSIEF- IN DAS LEBEN HINEINSCHREIEN von Bettina Böhler schafft es aus vorhandenem Archivmaterial (Filmausschnitte, Aktionen, Theaterbilder, teilweise unveröffentlichten Interviews und frühesten Kurzfilmen, die er bereits als Jugendlicher gedreht hat), ein faszinierendes Porträt des Allround-Künstlers zu zeichnen, das man so in seiner Komplettheit noch nicht gesehen hat. Das Porträt eines Regisseurs und Aktionskünstlers, der viel zu sagen hatte und seit seinem Tod keinen würdigen Nachfolger gefunden hat. Start am 2. April 2020.

Mit A L’ABORDAGE scheint in Guillaume Brac ein würdiger Nachfolger von Eric Rohmer gefunden. Felix verliebt sich in Alma und beschließt ihr in den Urlaub zu folgen. Doch die ist nicht begeistert. Die vielen amüsanten Gespräche und Aktionen zeichnen ein unterhaltsames Bild von Beziehungsgeflechten und der Schönheit eines Sommers in Frankreich. Ein Film, der einen Kinostart unbedingt verdient hat.

THE ASSISTANT von Kitty Green ist der bislang beste Film zur #ME TOO- Debatte. Jane( Julia Garner) denkt, sie hat ihren Traumjob in einer großen Filmfirma gefunden. Doch als sie die sexuellen Übergriffe ihres Chefs mitbekommt, versucht sie etwas dagegen zu tun. Gedreht in Downtown-New York und durch die vielen anderen Verweise, denkt man, obwohl so nicht genannt, an den Fall Harvey Weinstein. Gerade die sehr langsame Erzählweise des Films unterstreicht das Unangenehme.

© Jan Windszus / Berlinale 2010

FORUM

GENERATIONS von Lynne Siefert zeigt 13 fünfminütige statische Tableaus von Kohlekraftwerken in den USA. In verschiedenen Jahreszeiten mit verschiedenen Personen und Handlungen im Bild, schockiert, wie in unmittelbarer Nähe der Kraftwerke, die oft nicht mehr wirklich sicher sind, geangelt wird, Kinder schwimmen oder Sport getrieben wird. Eigentlich dem Vorgehen von James Benning ähnlich, war dies in diesem Jahr der bessere Benning.

NAMO (THE ALIEN) von Nader Saeivar erzählt die Geschichte eines Mannes, vor dessen Haus ihn zwei Männer aus einem Auto heraus zu beobachten scheinen. Da sein Vater Regimekritiker war, denkt er, dass es ihn betrifft. Doch schnell fühlen sich auch Nachbarn der Straße beobachtet und beginnen ihm Vorwürfe zu machen. Die Handlung schaukelt sich immer höher und macht das Ausgeliefertsein des Einzelnen in einem repressiven System fühlbar.

THE TWENTIETH CENTURY von Matthew Rankin zeigt in verschrobenen Kulissen, die meist bonbon-bunt sind, wie ein junger Mann Premierminister werden will. Doch er hat Konkurrenten, verliebt sich in die falsche Frau und hat ein Faible für das Tragen von Damenschuhen. Der Film, der stark an die Filme des ebenfalls kanadischen Regisseurs Guy Maddin erinnert, nur bunter, bietet eine sehr schräge Version kanadischer Geschichte.

GENERATION

H IS FOR HAPPINESS von John Sheedy bot als Eröffnungsfilm die typisch schräge Mischung vieler australischer Filme der letzten Jahre. Candice ist ein Kind an der Schwelle zum Teenager und hat nur ein Ziel: alle glücklich zu machen. Doch ihre Mutter ist seit dem Tod des kleinen Bruders depressiv und ihr Vater hat sich mit ihrem Lieblingsonkel, der sie bei allem unterstützt, verkracht. Und dann lernt sie einen neuen Schulkameraden kennen, der eigentlich zurück auf seinen Heimatplaneten will. Der Film bietet eine witzig verschrobene Handlung, die auch Themen wie Tod und Verzweiflung nicht ausspart.

Der schrägste Film des Festivals war eindeutig JUMBO von Zoe Wittstock. Und auch nicht wirklich ein Generationen-Film, wie so viele in diesem Jahr. Jeanne (Noemie Merlant) ist eine junge Einzelgängerin, die Probleme hat, sich anderen Menschen zu öffnen. Sie arbeitet auf einem Rummelplatz und verliebt sich dort in Jumbo. Doch Jumbo ist ein Fahrgeschäft. Die wahre Liebe macht auch vor metallischem Sex mit spritzendem Öl und einer Hochzeit nicht halt. Ein Plädoyer für die Akzeptanz des Andersseins.

In LOS LOBOS von Samuel Kishi Leopo emigriert eine Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern in die USA. Die Kleinen machen alles mit, denn Mama hat ihnen den Besuch von Disneyland versprochen, wenn sie ihre sieben Regeln einhalten, die sie ihnen auferlegt hat. Weitgehend aus der Sicht der meist allein im Appartement gelassenen Kinder gezeigt, entfaltet sich ein gut beobachtetes Alltagsdrama, was einen nicht kalt lässt.

YALDA, LA NUIT DU PARDON von Massoud Bakhshi verfolgt das Schicksal eines wegen Mordes zum Tode verurteilten Mädchens, das ihren viel älteren Mann umgebracht haben soll. Sie kann nur durch das traditionelle Pardon mit Blutgeldzahlung gerettet werden. Doch dieser Kontext ist verlegt ins moderne Iran von Heute, wo dies nicht privat geregelt wird, sondern in einer Realityshow im Fernsehen. Die Zuschauer zahlen quasi das Blutgeld.

Ergänzt wurde das Programm durch die RETROSPEKTIVE mit Filmen des Regisseurs King Vidor, einiger restaurierter Classics, deutschen Nachwuchsfilmen und ausgewählter Serienfolgen.

Harald Ringel